Owen
Aktivist
Er war ein gewöhnlicher Student, heute wird er von der chinesischen Regierung beschattet: der 23 Jahre alte Owen Chow gilt als inoffizieller Pressesprecher zwölf auf dem chinesischen Festland gefangener Hongkonger. Eine Aufgabe, die ihn selbst ins Gefängnis bringen könnte.
Schlaf gut!
Wir sprechen morgen. Hoffe, ich werde nicht verhaftet
Es liest sich wie ein „Ich hoffe, ich kriege den Bus noch“, wenn Owen Chow uns in den frühen Morgenstunden des 30. Septembers eine gute Nacht wünscht. Vielleicht rührt seine Gleichgültigkeit daher, dass ihn die Gefahr einer Verhaftung jeden Tag begleitet – denn er ist ein prodemokratischer Aktivist und Politiker in Hongkong. Seit Juni 2019 wurden nach Angaben des prodemokratischen Online-Nachrichtendienstes Stand News über 10.000 Menschen in der Stadt festgenommen.
In meiner Position muss man Hoffnung haben.
Owen gilt als inoffizieller Pressesprecher von zwölf Menschen aus Hongkong, die seit Wochen auf dem chinesischen Festland festgehalten werden. Ende August griff die chinesische Küstenwache elf Männer und eine Frau im Alter zwischen 16 und 33 Jahren etwa 70 Kilometer südöstlich von Hongkong bei dem Versuch auf, mit einem Schnellboot nach Taiwan zu fliehen. Elf der zwölf Geflüchteten waren zuvor im Rahmen der prodemokratischen Proteste festgenommen, zwei von ihnen unter dem NSL angeklagt worden. Seit der Festnahme hat keiner der Angehörigen etwas von ihnen gehört, dem Rechtsbeistand wird der Zutritt zur Haftanstalt verwehrt. Heute läuft die Frist aus, bis zu der die zuständige chinesische Justizbehörde entscheiden muss, ob die zwölf Gefangenen freigelassen oder angeklagt werden. Um internationale Aufmerksamkeit zu erregen, organisiert Owen eine Demonstration vor dem chinesischen Verbindungsbüro. Aktionen wie diese können ihn selbst ins Gefängnis bringen, sind Demonstrationen doch seit der Einführung des NSL verboten.
Wir sind mit der Demo fertig. Ein Vater der zwölf Gefangenen musste weinen. Das hat mir das Herz gebrochen
Wenige Stunden nach der Demonstration wird offiziell verkündet, dass die Gefangenen angeklagt und nicht freigelassen werden. Zehn von ihnen müssen sich wegen „illegaler Grenzüberquerung“, zwei für die Planung einer solchen verantworten.
Ein paar Eltern haben mich gerade weinend angerufen. Ich weiß nicht, was ich machen soll
Ahhhhhhhhhhh! Ich bin so verdammt verzweifelt!!!!! Ich bin so deprimiert, es tut mir leid
Tut mir so leid, das zu hören, Owen 🙁 Weißt du, was jetzt mit ihnen geschehen wird?
Für die Planung einer illegalen Grenzüberquerung drohen bis zu sieben Jahre Haft. Illegale Grenzüberquerung kann bis zu ein Jahr Gefängnis kosten
Wie schrecklich…die Familienangehörigen müssen am Boden zerstört sein. Kannst du irgendetwas tun?
Ich weiß es nicht. Falls irgendjemand weiß, wie ich die Gefangenen retten kann, soll er es mich wissen lassen
Hast du noch Hoffnung?
In meiner Position muss man Hoffnung haben. Ich stelle mir immer die Frage: Wenn wir die Hoffnung verlieren, wer kann den Geiseln dann noch helfen? Natürlich schwindet meine Hoffnung mit jedem Tag, an dem wir solche Neuigkeiten bekommen
Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals zu den Familienangehörigen sagen werde, dass ich die Hoffnung verloren habe. Oder, dass ich schweige, wenn sie mich fragen, wie wir ihre Kinder retten können
Fragen wir Owen einmal am Telefon, was er mit seiner Arbeit erreichen möchte, lacht er kurz auf. Dann sagt er, dass er diese Frage seit der Einführung des NSL nicht mehr offen beantworten kann. Stattdessen sagt er: Demokratie und Freiheit.
Heute ist der chinesische NationalfeiertagAm 1. Oktober 1949 wurde die Volksrepublik China gegründet. Seither gilt dieses Datum als Nationalfeiertag.. Vor exakt einem Jahr – dem 70. Geburtstag der chinesischen Nation – war das Stadtbild geprägt von Demonstrationszügen. Teilweise schlugen die Proteste in Gewalt um; ein Polizist erschoss einen 18 Jahre alten Demonstranten, fast 300 Menschen wurden verhaftet. Owen weiß nicht, was heute passieren wird, da Demonstrationen seit der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes (NSL)Das Nationale Sicherheitsgesetz trat am 30. Juni 2020 in Hongkong in Kraft. Es soll alles, was aus Sicht der chinesischen Regierung die nationale Sicherheit bedrohen könnte, „verhindern, stoppen und bestrafen.“ Aufgrund des sehr vage formulierten Gesetzestextes sorgt es seit der Implementierung für große Unsicherheit in der Bevölkerung. verboten sind. Doch nach den Entwicklungen im Fall der zwölf Gefangenen will er seine Wut gegenüber Festland-China auf die Straße tragen.
Guten Morgen, Owen! Wie sieht es aus bei dir, bist du schon unterwegs?
Ja. Die beschissene Polizei blockiert die Straßen an Tagen wie heute
Aus dieser Situation habe ich mich gerade befreien können 😀
Oh nein, wie nervig! Glaubst du, es bleibt heute friedlicher als vergangenes Jahr? Machst du dir noch Sorgen, dass du festgenommen werden könntest?
Viele Leute fragen mich, ob ich Angst habe festgenommen zu werden. Aber ich habe keine Angst. Mehr als 10.000 Menschen wurden in Hongkong im vergangenen Jahr festgenommen. Ich bin nicht alleine. Wir sind immer mental darauf vorbereitet, festgenommen zu werden, wenn wir auf die Straße gehen *
Ein wenig später geht Owen zum Mittagessen in ein sogenanntes gelbes RestaurantDie Farbe Gelb steht in Hongkong für das demokratische, blau für das regierungsfreundliche Lager. Durch das Tragen von Armbändern in der jeweiligen Farbe kommunizieren viele Hongkongerinnern und Honkonger ihre politische Zugehörigkeit..
Wir sind in einem gelben Restaurant und ruhen uns aus.
Ohh nice, was esst ihr?
Hongkong French Toast
Lecker!
Dieses Schweinchen ist eines der vielen Symbole der Protestbewegung. Vor dem NSL konnte man viele von ihnen in der ganzen Stadt finden, so konnte man die gelben Geschäfte schnell finden. Mittlerweile haben sich aber viele Geschäfte dazu entschieden, die Symbole zu entfernen, weil sie Angst vor dem Gesetz haben *
* Diese Material wurde uns ursprünglich als Sprach-Memo zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
Heute plant Owen ein Interview mit Angehörigen der zwölf Gefangenen. Die drei Frauen – zwei Mütter und eine Ehefrau – haben seit mehr als fünf Wochen nichts von ihren Familienmitgliedern gehört. Man vergisst leicht, dass eine Familie hinter jedem der zwölf Schicksale steht.
Hallo Owen, was machst du?
Ich treffe mich mit den Angehörigen der zwölf Gefangenen
Wir haben das Interview geführt
Dankeschön ?
Die Angehörigen befürchten negative Konsequenzen für sich und ihre Angehörigen. Sie wollen deshalb anonym bleiben.
Ich kann nicht essen und nicht schlafen.
Mutter eines verhafteten Sohnes
Ich werde dich nicht verlassen und ich werde mein ganzes Leben lang auf dich warten.
Ehefrau eines verhafteten Mannes
Jetzt sehe ich China, wie der Rest der Welt China sieht.
Mutter eines verhafteten Sohnes
„Ihr könnt ihre Gesichter nicht sehen, aber sie weinen und sehen sehr traurig aus. Ich muss sie beschützen. Ich hoffe, dass ihr für immer an unserer Seite steht.“ *
Human Rights Watch berichtet, dass drei der zwölf Hongkonger unter chronischen Krankheiten leiden und Medikamente benötigen. Laut lokalen Medienberichten leidet die einzige Frau unter den Verschwundenen an Depressionen. Ohne Medikamente könnte sie Taten gestehen, die sie nicht begangen hat. Nach Owens Informationen gibt es nach wie vor keine verlässlichen Informationen über den Gesundheitszustand der Gefangenen. Ihre Angehörigen befürchten, dass sie keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung haben.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich als Video zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
Es ist Samstag und Owen unternimmt einen Ausflug mit Freunden. Er braucht diese Pausen, denn sein politischer Einsatz kostet ihn viel Zeit und Energie.
Hallo Owen, wie geht’s? Bist du schon auf dem Weg?
Owen antwortet nicht auf unsere Nachricht. Knapp drei Stunden später meldet er sich schließlich zurück.
Wow Owen, das Material ist klasse, sieht wunderschön aus!
Auch Owens Freund Lester Shum war beim Ausflug dabei. Sein Name ist bekannt in Hongkong. Zusammen mit Joshua Wong war Shum einer der Anführer der Regenschirm-BewegungDie Regenschirm-Proteste fanden von September bis Mitte Dezember 2014 in Hongkong statt. Auslöser war ein Beschluss des chinesischen Volkskongresses, der vorsah, die Kandidaten für den Hongkonger Verwaltungs-Chefposten durch eine Vorauswahl selbst zu bestimmen. Die Bewegung bekam diesen Namen, weil sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit Regenschirmen vor Tränengas der Polizei schützten. im Jahr 2014. Lester, Joshua und Owen unterstützen sich gegenseitig bei ihren politischen Zielen. „Ich bin froh, viele Freunde gefunden zu haben, die meine Überzeugungen teilen und ebenfalls für Freiheit kämpfen“, erzählt uns Owen einmal.
Owen führt ein gefährliches Leben, denn er tut häufig Dinge, die an der Grenze zur Strafbarkeit liegen. Vor wenigen Monaten trat er als Kandidat bei den prodemokratischen Vorwahlen der Parlamentswahlen an. Nach der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes (NSL)Das Nationale Sicherheitsgesetz trat am 30. Juni 2020 in Hongkong in Kraft. Es soll alles, was aus Sicht der chinesischen Regierung die nationale Sicherheit bedrohen könnte, „verhindern, stoppen und bestrafen.“ Aufgrund des sehr vage formulierten Gesetzestextes sorgt es seit der Implementierung für große Unsicherheit in der Bevölkerung. musste Owen seinen Wahlkampfspruch ändern, weil er sich unter dem neuen Gesetz hätte strafbar machen können.
Wurdest du wegen deines politischen Engagements jemals von den Behörden verfolgt?
„Ja, seit den Wahlen im vergangenen Jahr bin ich oft verfolgt worden. Das kommt immer häufiger vor. Seit den Bezirksratswahlen vergangenes Jahr benutzen sie dafür Taxis, Lieferwagen und Privatautos. Es sind immer Siebensitzer, mit denen sie uns folgen. Einmal, am 6. September, gab es eine Demonstration. Um drei Uhr morgens wartete ein Siebensitzer mit fünf Männern darin vor meinem Haus. Sie haben gewartet, dass ich nach Hause komme.” *
Was machst du dagegen?
Ich schreibe mir die Nummernschilder auf. Einmal habe ich Joshua Wong ein Nummernschild weitergeleitet. Er sagte, dass dasselbe Auto ihn auch schon verfolgt hat *
Joshua Wong ist ein Aktivist und Politiker aus Hongkong. Als Gesicht der Regenschirm-BewegungDie Regenschirm-Proteste fanden ab September bis Mitte Dezember 2014 in Hongkong statt. Auslöser war ein Beschluss des chinesischen Volkskongresses, der vorsah, die Kandidaten für den Hongkonger Verwaltungs-Chefposten durch eine Vorauswahl selbst zu bestimmen. Die Bewegung bekam diesen Namen, weil sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit Regenschirmen vor von der Polizei eingesetzten Tränengas schützten. erlangte er 2014 internationale Bekanntheit. Wong ist nach wie vor Teil der prodemokratischen Bewegung.
Owen fährt fast immer mit dem Taxi, um seine Verfolger abzuschütteln. Er genießt die Fahrten, weil es die einzige Zeit des Tages ist, die er für sich hat. Owen meidet die städtische U-Bahn, weil er der Betreibergesellschaft vorwirft, die Kommunistische Partei zu unterstützen. Er sagt, alle „wahren“ Hongkonger würden die U-Bahn boykottieren.
Die Kommunistische Partei will uns unter Druck setzen, indem sie unseren Alltag durcheinander bringt. Sie wollen alles über unsere Beziehungen wissen. *
Owen kommuniziert mithilfe verschlüsselter Messenger-Dienste. Er befürchtet, dass die Kommunistische Partei Daten von seinem Telefon stehlen und gegen ihn verwenden könnte. Seine Bedenken gehen so weit, dass er uns vorschlug, das von uns bereitgestellte Handy bei Demonstrationen zu Hause zu lassen.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich als Video am 6. Oktober zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
Es gibt Neuigkeiten im Fall der zwölf Hongkonger. Informationen eines Whistleblowers legen nahe, dass Hongkongs Regierung am Vorfall beteiligt war. Deshalb treffen sich Owen und andere Aktivisten und Aktivistinnen zu einer Demonstration vor der Zentrale des Government Flying Service (GFS), der Flugbereitschaft der Hongkonger Regierung. Die Protestierenden fordern Antworten.
Hallo! Wie läuft’s? Bist Du schon auf dem Weg zur Demo?
Owen ist heute sehr beschäftigt. Deshalb antwortet er uns knapp drei Stunden später.
Wir haben gute Arbeit geleistet
Ist das Joshua Wong neben Dir?
Richtig
Du musst Strafe zahlen?
Ja, 2000 HK Dollar
2000 Hongkong Dollar entsprechen etwa 250 US-Dollar oder 210 Euro.
Oh nein, was halten sie dir vor?
Wir sollen gegen die Corona-Beschränkungen verstoßen haben. Es ist verboten, Menschenansammlungen zu organisieren
Personen, die während der Corona-Pandemie Menschenansammlungen organisieren oder an ihnen teilnehmen, können mit bis zu 25.000 Hongkong Dollar Strafe oder bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden.
„Heute haben einige der Angehörigen, Joshua Wong, Eddie Chu, Lester Shum und ich am Hauptquartier der Hongkonger Flugbereitschaft demonstriert. Vor der Pressekonferenz, als ich gerade anfangen wollte zu sprechen, kamen viele Polizisten und haben uns unterbrochen. Wir alle mussten 2000 Hongkong Dollar Strafe zahlen, weil wir gegen die Corona-Beschränkungen verstoßen haben. Später haben wir unsere Informationen offengelegt. Wir haben enthüllt, dass es sich bei der Flugmission zwischen 4.10 und 8.45 Uhr morgens um einen Polizeieinsatz handelte.“
Flugdaten legen nahe, dass die Hongkonger Regierung von der geplanten Flucht der zwölf Hongkonger wusste und mit der Kommunistischen Partei zusammenarbeitete. Ein Hubschrauber und ein Flugzeug der Flugbereitschaft sollen das Schnellboot der Zwölf aus der Luft verfolgt haben, bis die chinesische Küstenwache es im offenen Meer abfing.
Was kann die westliche Welt deiner Meinung nach tun, um Hongkong zu unterstützen?
Um ehrlich zu sein, kann ich nicht sagen, was genau ihr tun könnt. Das liegt am Nationalen Sicherheitsgesetzes und daran, dass ich noch in Hongkong bin. Aber vertraut China nicht *
Ich kann nur so viel sagen: Bitte arbeitet nicht mit China zusammen und lasst nicht zu, dass eure Regierung mit chinesischen Unternehmen kooperiert. Bitte behaltet uns weiterhin im Auge und steht uns bei. Bleibt für immer an Hongkongs Seite *
* Dieses Material wurde uns ursprünglich als Sprach-Memo zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
OMG, als ich aufgewacht bin, haben mich die nächsten Neuigkeiten erreicht. Weitere neun Menschen sind festgenommen worden, weil sie den Zwölf bei der Flucht geholfen haben sollen
Owens Leben erscheint uns wie ein Leben im Schnelldurchlauf. Er steht nie still – gerade ist er noch auf einer Pressekonferenz, im nächsten Moment geht es schon zu einem Interview. Wenn Owen auf einer öffentlichen Veranstaltung auftritt, baut sich stets eine Mauer aus Mikrofonen lokaler und internationaler Medien vor ihm auf. Viele seiner Nachrichten an uns beginnen mit Worten wie „Hey ihr, es ist jetzt 3 Uhr am Morgen…“. Dass Owen eigentlich Krankenpflege studiert, ist für ihn kaum noch von Bedeutung. Seit Monaten war er nicht mehr in einer Vorlesung.
Ich würde gerne mal einen Kaffee trinken oder einkaufen gehen, aber dafür habe ich keine Zeit.
Es fällt ihm schwer, Privates mit uns zu teilen, weil der Aktivismus sein Leben definiert. „Ich würde gerne mal einen Kaffee trinken oder einkaufen gehen, aber dafür habe ich keine Zeit.“ Owen muss sich manchmal daran erinnern, dass sein Leben aus mehr als nur dem Aktivismus besteht.
Gibt es ein Lied, das dich an die Protestbewegung erinnert?
*
Fühlst du dich manchmal deiner Mutter gegenüber schuldig, weil du als Aktivist in Hongkong einen gefährlichen Weg eingeschlagen hast?
„Natürlich fühle ich mich schuldig, aber nicht nur manchmal. Ich fühle mich jedes Mal schuldig, wenn ich meine Mutter anschaue.“
Ich denke, dass ich kein guter Sohn bin. In unruhigen Zeiten wie diesen will kein Elternteil, dass ihre Kinder auf die Straße gehen. Meine Mutter wird mit jedem Tag langsamer, ihre Haare werden grauer, ihre Augen schlechter. Sie hat Angst, dass ihr Sohn im Gefängnis landet. Also klar, ich fühle mich schuldig **
Glaubst du aber nicht auch, dass sie stolz auf dich ist?
Früher hat meine Mutter immer allen erzählt, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe, bevor ich spielen gegangen bin, dass ich eine Eins bekommen habe, dass ich eine Studienplatz-Zusage habe. Aber ich habe sie nie sagen hören, dass ich für die Freiheit Hongkongs kämpfe oder im Fernsehen war. Ich glaube, meine Mutter Angst davor hat, mich im Fernsehen zu sehen, weil dort nichts Gutes mehr zu sehen ist **
Redest du mit deiner Familie über die Politik in Hongkong?
Eine meiner Schwestern ist Polizistin. Ein Beruf, den Hongkonger und ich wirklich hassen. Seit den Regenschirm-Protesten haben wir keinen Kontakt mehr. Meine Mutter und meine anderen Schwestern sprechen auch nicht mehr mit ihr. Und sie lebt natürlich nicht mit uns. Ich frage mich manchmal, ob ich drei oder vier Schwestern habe. Manchmal scherzt meine Schwester darüber, dass sie mich und meine andere Schwester auf der Straße kämpfen sehen will ***
Warum hasst du die Polizei so?
„Die Hongkonger Polizei ist nur eine Schachfigur der Kommunistischen Partei. Sie unterstützen das bösartige Regime dabei die Demokratie und die Freiheit Hongkongs zu unterdrücken. Sie haben die Kontrolle und Humanität verloren. Sie greifen Hongkonger vorsätzlich an, auch wenn es sich um Kinder, ältere Menschen oder schwangere Frauen handelt. Sie greifen Menschen an, die hilflos sind. Die Polizei arbeitet nur für Geld und nicht für Gerechtigkeit. Diejenigen, die für Gerechtigkeit kämpfen, sind die Hongkonger – und das ist die Polizei nicht. Sie sind der Feind.“ *
* Das Material wurde uns ursprünglich am 5. Oktober zugespielt.
** Dieses Material wurde uns ursprünglich als Video zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
*** Dieses Material wurde uns ursprünglich am 4. Oktober als Sprach-Memo zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.
Wenn Owen von seiner Heimat erzählt, benutzt er häufig die Worte „Wir Hongkonger“. Der Aktivist definiert seine Identität über den Ort, in dem er aufgewachsen ist und dessen Gemeinschaft er kennt. Die Frage, was passieren müsste, damit er diese Stadt verlässt, bleibt er uns schuldig. Er will nicht, dass die Kommunistische Partei die Antwort kennt – und weiß, was sie tun könnte, um ihn aus seiner Heimat zu vertreiben.
Owen, lass uns für einen Moment träumen: Stell dir vor, Hongkong stünde von einem auf den anderen Tag nicht mehr unter chinesischem Einfluss. Was würdest du tun?
Ich würde ein Haus bauen, weil ich glaube, dass viele von ihnen nach einem möglichen Krieg zerstört sein würden. Ich würde mich mit den Menschen umgeben, die ich liebe. Das könnte meine Mutter sein, falls sie dann noch lebt, meine Frau oder meine Freundin. Ich glaube, dass viel Menschen dazu gerade keine Zeit haben, weil sie damit beschäftigt sind, für die Freiheit Hongkongs zu kämpfen *
Im Vorgespräch zu diesem Projekt fragten wir Owen, warum ein junger Mann, der stets ausgezeichnete Noten und eine gesicherte Zukunft vor sich hatte, den unberechenbaren und gefährlichen Weg des Aktivismus einschlug – in einer Stadt, deren Freiheit mit jedem Tag weiter schwindet. Seine Antwort folgte in einem fast ungläubigen Ton, als würden wir diese Antwort kennen müssen: „Wir haben keine andere Wahl.“
Die Chat-Unterhaltungen wurden auf Englisch geführt. Die Inhalte wurden von uns kuratiert und zur besseren Lesbarkeit teilweise gekürzt. Die Sinnzusammenhänge blieben erhalten.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich als Video zugespielt. Wir haben es transkribiert und die Inhalte zum besseren Verständnis sprachlich leicht bearbeitet.