Toby
Student
Toby ist Student, Aktivist und blutjung. Weil er Repressalien fürchtet, möchte er weder sein Alter preisgeben noch sein Gesicht zeigen. Denn was es bedeutet, in einem Unrechtsstaat zu leben, musste er bereits am eigenen Leib erfahren.
Eigentlich heißt Toby gar nicht Toby. Seinen echten Namen und sein Alter möchte er öffentlich nicht preisgeben. In den Videos, die er uns in den zwei Wochen schickt, ist sein Gesicht verdeckt und seine Stimme verzerrt.
Toby ist der jüngste Protagonist der „Hong Kong Diaries“. Er sagt, die Gefahr durch das Nationale SicherheitsgesetzDas Nationale Sicherheitsgesetz trat am 30. Juni 2020 in Hongkong in Kraft. Es soll alles, was aus Sicht der chinesischen Regierung die nationale Sicherheit bedrohen könnte, „verhindern, stoppen und bestrafen.“ Aufgrund des sehr vage formulierten Gesetzestextes sorgt es seit der Implementierung für große Unsicherheit in der Bevölkerung. habe dafür gesorgt, dass nur noch wenige junge Hongkonger ihre Geschichten erzählen – und genau deshalb möchte er seine teilen.
Als Toby am ersten Tag des Projekts aufwacht, begrüßt ihn diese Nachricht:
Heute ist der Jahrestag der Regenschirm-Bewegung. Kannst du dich noch erinnern, was du heute vor 6 Jahren gemacht hast?
Als wir aufwachen, hat Toby schon etwa 50 Nachrichten, Sprachnotizen, Videos und Bilder geschickt. Damit wird klar, dass Toby der Welt nicht nur zeigen will, was in seinem persönlichen Leben, sondern auch was in Hongkong passiert.
2014 haben hunderttausende Protestierende die Hauptstraße in Admiralty besetzt. Die Polizei hat Tränengas benutzt, um den Protest aufzulösen. Ich bin jetzt gerade auf dem Weg dorthin
Ich bin jetzt in der Admiralty-Gegend. Das hier ist die Harcourt Straße, wo vor sechs Jahren der Protest stattgefunden hat
Wie ihr sehen könnt, patrouillieren hier Polizeiwagen
Toby selbst war bei den Protesten nicht dabei. Damals war er quasi noch ein Kind. Trotzdem hatte er bereits eine Meinung zu den Protesten. Die hat sich allerdings komplett geändert:
„Ich erinnere mich noch, dass ich in der siebten oder achten Klasse war und kaum etwas über Politik wusste. In den Nachrichten sah ich damals Leute, die die Straße besetzten. Ich wusste nicht, warum sie das machten. Ich dachte nur, dass das bestimmt viel kostet und Leute frustriert. Zu dieser Zeit unterstützte ich den Protest also kaum. Doch nach ein paar Jahren und nachdem ich mich über die Protestbewegung und Hongkongs demokratische Entwicklung informiert hatte, wurde mir klar, warum sie die Straße besetzten. 2019 beteiligte ich mich dann selbst am Protest, nachdem die Regierung einen Plan vorstellte, durch den Hongkonger aufs chinesische Festland ausgeliefert werden könnten.“
Später will Toby zur Prince-Edward-Station gehen, um ein paar Videos aufzunehmen. An dieser Station attackierten Polizisten auf den Tag genau vor 13 Monaten sowohl Protestierende als auch Zivilisten. Toby will uns den Ort der Attacke zeigen – als er dort ankommt, entscheidet er sich aber um.
In der Station selbst und auch rundherum sind viele Polizisten
Ich weiß nicht, ob ich die Station filmen kann oder nicht
Ich glaub, das klappt nicht. Hunderte von ihnen streifen hier herum. Wenn ich die Kamera benutze, werde ich sofort durchsucht
Das Schlimmste ist, dass viele Polizisten in Zivil unterwegs sind
Hongkong ist quasi ein Polizeistaat, die Leute haben Angst vor ihren Mitmenschen
Trotz des Chaos in der Stadt entdeckt Toby immer wieder Zeichen der Hoffnung – wie dieses Graffiti, das ihm auf dem Heimweg auffällt.
Der starke Regen macht das Graffiti sichtbar
Was steht da?
„Hongkonger erhebt euch!“
Wunderschön
Toll sieht das aus!
Warst du heute in der Innenstadt? Uns interessiert wirklich, wie die Atmosphäre am chinesischen Nationalfeiertag dort ist
Es fällt kaum auf, dass der Nationalfeiertag heute ist
Keine großen Veranstaltungen
Keine Freude
Nur Proteste und Frust
69 Menschen wurden bis jetzt schon festgenommen
Und vermutlich viel Polizei?
Die Polizei ist überall
Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich durch Hongkong laufe
Wenn ich durch die Stadt gehe, passe ich besonders auf
Für mich ist neben der Polizeigewalt die Angst das Schlimmste
Beeinträchtigt dich das?
Ich versuche, die Angst nicht mein Leben beeinflussen zu lassen
Trotz aller Probleme, die das Leben in Hongkong mit sich bringt, liebt Toby seine Heimatstadt noch immer:
Toby ist durch und durch politisiert – allerdings nicht ganz freiwillig, wie er sagt. Oft wünsche er sich ein ruhigeres Leben, doch das Chaos in Hongkong lasse das nicht zu. Wie sehr die Politik sein Leben bestimmt, merken wir in unseren Gesprächen mit ihm immer wieder. Denn selbst wenn wir über Banales sprechen, lenkt Toby das Gespräch hin zu politischen Themen.
Hey! Was hast du heute gemacht?
War im Kino
Dürfen die Kinosäle in Hongkong wieder voll sein?
Ich glaube nur halb voll. Es dürfen immer nur zwei Menschen nebeneinandersitzen
Und wir müssen die ganze Zeit eine Maske tragen
Hongkonger müssen in der Öffentlichkeit wegen Corona immer eine Maske tragen. Das hilft den Protestierenden, weil sie jetzt nicht mehr einfach von der Polizei angehalten werden können, wenn sie eine Maske tragen
Wann warst du eigentlich das letzte Mal bei den Protesten dabei?
Das letzte Mal, dass ich wirklich richtig aktiv war, war im November 2019
Das letzte Mal als Teilnehmer im Juli 2020
Was meinst du mit richtig aktiv?
Ich war auf der Straße und habe Polizisten konfrontiert
Musste so schnell wie möglich rennen, um nicht verletzt werden.
Ich wurde aber trotzdem verletzt.
Sowas halt
Aber als ich die Gasmaske im November abgenommen habe, habe ich sie danach nie wieder angezogen
Hat die Polizei dich verletzt?
Das Tränengas
Während der Proteste an der Polytechnischen Universität letztes Jahr im November war der Rauch so konzentriert, dass es sich so angefühlt hat, als würde mein Körper brennen
Was genau ist denn passiert?
Die Protestierenden haben die Uni zwei Wochen lang besetzt. Ich habe es aber geschafft, zu entkommen
Gerade so
Zwei Minuten später wurde die Route von Polizisten blockiert
Ich erinnere mich nur noch daran, wie meine Freunde und ich so schnell rannten wie wir konnten, als wir den Campus verlassen haben
Nachdem ich entkommen bin, habe ich meinen Freunden, die noch im Campus waren, die Fluchtroute geschickt
Manche von ihnen haben es geschafft
Andere wurden verhaftet
Hast du zufällig noch die Nachricht, die du deinen Freunden geschickt hast?
Könntest du das für uns übersetzen?
Hallo
Geh zum Z Core (der Universität)
Nimm den Aufzug bis ins Erdgeschoss
Da ist sowas das aussieht wie ein Bahnübergang
Auf der linken Seite sind regierungstreue Security-Männer
Auf der rechten Seite ist die Polizei
Vergiss sie einfach und lauf nach vorne
Vorbei am Metalldraht
Da sind Treppen, die nach oben führen
Wenn du oben an der Straße angekommen bist, renn einfach weiter
Am Ende der Straße warten Autos mit Helfern, die euch abholen
Viel Glück
Scheiße
Es ist zu spät, die Polizei hat die Fluchtroute entdeckt
In einem Video eines vergangenen Tages redet Toby eigentlich über seine Familie. Nur beiläufig erwähnt er, dass er letztes Jahr verhaftet wurde. Moment mal! Verhaftet? Wir schauen uns das Video noch mal an, um sicherzugehen, dass wir ihn richtig verstanden haben. Dann fragen wir vorsichtig genauer nach.
Wenn ich zu detailliert darüber rede, könnte ich ganz einfach identifiziert werden
Deswegen können wir nicht erklären, wo und wann er verhaftet wurde. Toby war allerdings bereit, mit der Öffentlichkeit zu teilen, was passierte:
Ich lag mit Handschellen im Krankenhausbett.
Auf dem Weg nach Hause nach einer Demonstration wurde ich von Polizisten angegriffen. Sie haben mich so schwer verletzt, dass ich ins Krankenhaus gebracht werden musste
Die Polizei ist dem Rettungswagen hinterhergefahren und ich wurde in der Notaufnahme verhaftet
Das hört sich furchtbar an. Aber warum hat dich Polizei attackiert?
Ich weiß es nicht
Später beschuldigten sie mich der unrechtmäßigen Versammlung, was absoluter Unsinn ist, da ich zu dieser Zeit allein war. Wie ich schon sagte, war das bereits nach den Protesten, als ich auf dem Heimweg war.
Wo hat dich die Polizei dann hingebracht?
Ich hab die Haft im Krankenhaus verbracht, weil meine Verletzungen so übel waren
Ich lag mit Handschellen im Krankenhausbett
Sie haben Handschellen aus Metall benutzt die an langen Metalldrähten befestigt waren
Die Handschellen waren mit einer Leine verbunden
Wie eine Hundeleine
Ich hab mich furchtbar gefühlt, wie ein Räuber oder Mörder, um so eine krasse Haft zu verdienen
Das klingt traumatisierend. Ist es ok für dich, darüber zu sprechen?
Es ist ok. Ich rede offen darüber
Haben sie dich dann ins Gefängnis gebracht?
Die Ärzte und Krankenpfleger haben mir gesagt, dass sie mir helfen wollen
Sie wussten, dass ich im Gefängnis verprügelt werden würde
Deswegen haben sie der Polizei gesagt, dass ich wegen meiner Verletzungen länger im Krankenhaus bleiben muss
Ich musste letztendlich also gar nicht ins Gefängnis
Ein Bekannter hat die Kaution für mich gezahlt
Nachdem sie ihr Geld bekommen hatten, kam ich frei
Also musst du deswegen keine Konsequenzen fürchten?
Sie meinten, dass der Fall noch nicht vorbei sei. Wenn sie Beweise fänden, würden sie mich sofort verhaften
Aber du sagst ja, dass du nichts verbrochen hast. Macht dich das trotzdem nervös?
Früher schon, heute nicht mehr
Wir als Hongkonger müssen diese neue Realität einfach akzeptieren. Die Polizei geht gegen jeden vor, der sich für Freiheit und Gerechtigkeit einsetzt
Ein Teil seiner Familie unterstützt die Kommunistische Partei Chinas ebenso wie die Hongkonger Polizei. Die verschiedenen politischen Ansichten führen immer wieder zu Konflikten. Tobys Verhaftung belastet sie zusätzlich, denn für seinen Vater steht fest, dass er selbst daran Schuld ist:
Verletzt es dich, dass dein Vater die Hongkonger Polizei unterstützt, nach all dem, was dir passiert ist?
Ja, schon haha
Mein Fall ist aber gar nicht der schlimmste. Mein Vater liebt mich und für ihn bleibe ich weiterhin sein Sohn
In anderen Fällen haben sich die Eltern gar nicht erst blicken lassen, nachdem ihre Kinder verhaftet wurden
Oftmals haben sie sich nicht mal um Anwälte gekümmert
Ich habe aber, um ehrlich zu sein, kaum mit meinem Vater über das gesprochen, was passiert ist
Im Krankenhaus hat er meine Verletzungen gesehen und gemeint: „Wow, die haben dich ja echt zugerichtet“
Was ist dann passiert?
Er hat sich weiterhin um mich gekümmert, aber wir sind einen Monat lang politischen Themen aus dem Weg gegangen. Ich habe mehrere Tage im Krankenhaus verbracht und er hat mich jeden Tag besucht
Hongkongs Skyline mag beeindruckend sein und in der Stadt ist immer was los, aber was Toby vor allem an seiner Heimat schätzt, ist die Natur. Wandern zu gehen, stellt für ihn die perfekte Möglichkeit dar, um der Hektik zu entkommen:
Wie war die Wanderung?
Richtig schön
Sieht extrem schön aus!
Bist du zu Hause?
Auf dem Weg in eine Bar haha
Es ist Samstagabend
Als wir diese Nachricht bekommen, fühlen wir uns direkt alt. Für Toby war es absolut klar, an einem Samstagabend nicht zu Hause zu sein, sondern in eine Bar zu gehen. Er scheint dort viel Spaß gehabt zu haben:
*
Toby geht allerdings nicht nur aus, um Spaß zu haben, sondern um dem Chaos, das sein Leben im Griff hat, zu entkommen:
In einer Bar realisiert man gar nicht, wenn etwas Schreckliches in der Stadt passiert. Die Atmosphäre ist so surreal, dass man für eine Weile vergisst, was um einen herum alles passiert.
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Die Chat-Unterhaltungen wurden auf Englisch geführt. Die Inhalte wurden von uns kuratiert und zur besseren Lesbarkeit teilweise gekürzt. Die Sinnzusammenhänge blieben erhalten.
* Dieses Material wurde uns ursprünglich als Video zugespielt.
** Dieses Material wurde uns ursprünglich am 21. Oktober zugespielt.